Wolfgang Steinitz, 1905–1967
Vorbemerkung der Redaktion
Dieses Biogramm entstand im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022) und erschien zuerst in: Tashinskiy, Aleksey / Boguna, Julija / Rozmysłowicz, Tomasz: Translation und Exil (1933–1945) I: Namen und Orte. Recherchen zur Geschichte des Übersetzens. Berlin: Frank & Timme 2022, S. 452–453.
Während seines noch nicht abgeschlossenen Promotionsverfahrens wurde Steinitz, Assistent am Ungarischen Institut der Berliner Universität, aus „rassischen“ Gründen entlassen. Die Dissertation Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung erschien 1934 in Helsinki. Im selben Jahr emigrierte er in die Sowjetunion. Dort arbeitete er mit dem Status „ausländischer Spezialist“ als Professor für finnisch-ugrische Sprachen am Leningrader Institut der Nordvölker. 1937 wurde ihm die Verlängerung der Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung verweigert. Entfernte Verwandte in Schweden bürgten für ihn, so dass er 1937 nach Stockholm ins Exil gehen konnte. 1942 wurden ihm der Doktortitel und die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. In Stockholm hielt er Gastvorlesungen am Ungarischen Institut, befreundete sich u. a. mit Roman Jakobson, arbeitete für die „Emigranten-Selbsthilfe“ und wurde Mitbegründer des Freien Deutschen Kulturbundes. Im Januar 1946 kehrte Steinitz, Mitglied der KPD seit 1927, nach Berlin (SBZ) zurück, wo er zahlreiche wissenschaftliche und politische Leitungsfunktionen übertragen bekam.
Translatorisches
Schon während seines Studiums hat sich Steinitz bei Forschungsaufenthalten in Finnland und Estland (1929–31) als Übersetzer betätigt. Die Dissertation enthält zahlreiche karelische Liedverse, denen jeweils eine deutsche Version beigegeben ist, „um dem des Finnischen Nichtkundigen die Möglichkeit zu selbständiger Prüfung des finnischen Parallelismus zu geben“. Während der Zeit in der Sowjetunion zeichnete Steinitz mündlich tradierte ostjakische Lieder und Erzählungen auf, die er 1939 in Tartu (Estland) im Original und mit von ihm geschaffenen, „auf die Verständlichkeit und Lesbarkeit“ bedachten Übersetzungen publizieren konnte. Große Verbreitung erlangte das 1944 in Schweden entstandene Russische Lehrbuch.
In der SBZ bzw. DDR sorgte er als Übersetzer und Herausgeber, auch in Kooperation mit Jürgen Kuczynski, für die Verbreitung sowjetrussischer politischer und wissenschaftlicher Literatur. Als Vizepräsident der Berliner Akademie der Wissenschaften (1954–1963) förderte er neben anderen Großprojekten (Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten) und im wissenschaftlichen Austausch u. a. mit Roman Jakobson die Einrichtung der Arbeitsstelle für mathematische Linguistik und automatische Übersetzung. Auch seine Arbeit als „Hilfsslawist“ und als Universitätsprofessor für Finnougristik (Forschungsschwerpunkt: Ostjakologie) war von vielfältigen übersetzerischen Aktivitäten begleitet. Eine durch mehrere Jahre vorangetriebene gründliche Neubearbeitung des von Anton Schiefner bzw. Martin Buber übersetzten finnischen „Nationalepos“ Kalevala beendete er drei Tage vor seinem Tod.