Bertolt Brecht, 1898–1956
Der große Theater-Reformer des 20. Jahrhunderts Bertolt Brecht ist bekannt für seine schonungslose „Verwertung“, Plünderung, kühne Umarbeitung fremder Texte. Dass er gelegentlich auch sensibel und respektvoll übersetzen konnte, ist kaum bekannt. Die große Werkausgabe (GBA) weist die Übersetzungen und Bearbeitungen nur in den Kommentaren als solche aus.
Geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg, erhielt er dort Gymnasialunterricht in Latein ab Sexta (5. Klasse), in Französisch ab Untertertia (8. Kl.) und in Englisch ab Obersekunda (11. Kl.). Später, im skandinavischen Exil (1933–1941), lernte er dänische und schwedische Zeitungen lesen, das Exil in den USA (1941–1947) erforderte tägliche Praxis im Englischen. Doch kommt dieser Spracherwerbsbiographie wenig Bedeutung zu, denn alle für sein eigenes Werk wichtigen Autoren wie Kipling, Rimbaud, Villon, Shakespeare las Brecht entweder in deutscher Übersetzung, oder er stützte sich auf Vorarbeiten sprachkundiger Helfer. In den 1920er Jahren füllte vor allem Elisabeth Hauptmann diese Rolle aus. Die Entstehung der Dreigroschenoper aus ihrer Übersetzung von John Gays Beggar’s Opera (1728) bleibt für Brechts Umgang mit fremden Texten lange Zeit paradigmatisch. Die Songs, die im „Epischen Theater“, die Handlung unterbrechend, eine recht eigenständige Funktion haben, bieten oft Gelegenheit, Texte verschiedenster Autoren einzublenden (Villon, Kipling). Auch einzelne Strophen, ja Wörter – wie das exotische Mandalay – fluktuieren dabei durch mehrere Stücke: Mann ist Mann, Mahagonny, Dreigroschenoper.
Immerhin bot Brecht dem Übersetzer Hans Reisiger, der die deutsche Kipling-Ausgabe des Leipziger List-Verlags betreute, Ende 1925 an, für den geplanten Lyrik-Band Übersetzungen beizusteuern. Zwischen 1927 und 1930 erschienen unter seinem Namen Übersetzungen folgender Gedichte Kiplings: Cholera Camp (vgl. GBA 13: 349), The Ladies (ebd. 360), Mary, Pity Women (GBA 14: 9). Die Vor-Übersetzungen stammten von Elisabeth Hauptmann, Brechts Anteil bleibt oft unklar und mag bisweilen gering gewesen sein. „Doch sein sicherer Instinkt für das richtige Wort zeigt sich in den geringsten Abweichungen“ (Lyon 1976: 66) – ein Instinkt, der hier auf eine tiefere Affinität der beiden Dichter verweist, eine Verwandtschaft ihrer Haltung, Sehweise, Sprache.
Auf wohl noch intensiver empfundener Wahlverwandtschaft beruht die Übersetzung der 12 chinesischen Gedichte, deren erste Hälfte Brecht 1938 in der von ihm mitherausgegebenen Exilzeitschrift Das Wort (Moskau) erscheinen ließ. Die später (1950) hinzugefügte Charakteristik des Dichters Po Chü-yi (772–846), von dem vier der sechs Gedichte stammen, liest sich fast wie ein Selbstporträt:
Von sich sagte er: „Wenn die Tyrannen und Günstlinge meine Lieder hörten, sahen sie einander an und verzogen die Gesichter.“ Seine Lieder waren „im Mund von Bauern und Pferdeknechten“, sie standen geschrieben „auf den Wänden von Dorfschulen, Tempeln und Schiffskabinen“. Er wurde zweimal ins Exil geschickt. (GBA 11: 388)
Die Po Chü-yi-Übersetzungen stehen im Kontext einer breiten Rezeption chinesischer Kultur. Im selben Jahr 1938 entsteht die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration – nach langer Vertrautheit mit dem Taoismus; seit 1934 schrieb Brecht an seinem Me-ti. Buch der Wendungen, wofür er das kurze, kasuistische Lehrgespräch chinesischer Philosophen, besonders des Mo-Di, kopierte; an das anhaltende Studium der asiatischen Schauspielkunst, an die Auseinandersetzung mit Konfuzius und an den chinesischen Schauplatz des Guten Menschen von Sezuan sei nur erinnert.
In einem Begleittext (1950, GBA 11: 387 f.) betont Brecht selber, dass er die Gedichte „ohne Zuhilfenahme der chinesischen Originale übertragen“ habe; Vorlage seien die „wörtlichen“ Übersetzungen des englischen Sinologen Arthur Waley. Für die deutsche Fassung habe er die „unregelmäßigen Rhythmen“ seiner Deutschen Kriegsfibel (1936) benutzt. In seiner hervorragend gründlichen Ausgabe aller chinesischen Gedichte Brechts demonstriert Antony Tatlow (1973), wie diese zwanglose Übertragung in die eigene Diktion oft Intention und Charakter, ja sogar Wortwahl des chinesischen Originals adäquater treffen als Waleys „wörtliche“ englische Version. Waley wolle möglichst viel von der chinesischen Prosodie und Wortstellung bewahren und wirke daher oft präziös. Brechts lapidare, einfache Sprache gebe den Gedichten ihre Vitalität und Aktualität zurück. Die Feststellung, Brechts „Veranschaulichung beruht auf einer ganzheitlichen Auffassung des Gedichts“ (Tatlow 1973: 81), begründet schließlich, warum man auch bei einem „Nachdichter“, der die Ausgangssprache nicht beherrscht, von echter Übersetzung sprechen kann: Selbst durch den Schleier einer fremden Vorübersetzung hindurch begreift er das Ganze des ursprünglichen Gedichts – eine Divination aus Affinität zum anderen Dichter.
Brecht hat die Maxime seiner Übersetzungspraxis in einer kurzen Reflexion festgehalten – seinem einzigen Theorietext zum Thema:
Gedichte werden bei der Übertragung in eine andere Sprache meist dadurch am meisten beschädigt, daß man zuviel zu übertragen sucht. Man sollte sich vielleicht mit der Übertragung der Gedanken und der Haltung des Dichters begnügen. Was im Rhythmus des Originals ein Element der Haltung des Schreibenden ist, sollte man zu übertragen suchen, nicht mehr davon… (GBA 22/1: 132)
Mit dieser (aufklärerischen) Maxime, die das Wie dem Was des Gesagten unterordnet, ist zugleich eine Gegenposition zur (romantischen) Übersetzungstheorie des Freundes Walter Benjamin formuliert. 1938 quartierte sich Benjamin vier Monate lang in Brechts dänischem Dorf Skovsbostrand ein und schrieb seine Studie über Das Paris des Seconde Empire bei Baudelaire. In dieser Zeit übersetzte Brecht zwei Gedichte von Baudelaire – Die kleinen alten Frauen III und Morgendämmerung (GBA 14: 403, 402); zwei Strophen aus einem Gedicht von Victor Hugo dürften ebenfalls von Benjamin angeregt worden sein (GBA 14: 411). Brechts kritische Vorbehalte gegen Baudelaire, wie sie im Gespräch mit Benjamin zum Ausdruck kommen, schlagen sich auch in der – an sich sehr sensiblen und präzisen – Übersetzung nieder. Tendenzen der Vorlage, die ihm widerstehen (wie hier die Wortpracht des Originals), wird Brecht auch in Zukunft dämpfen, korrigieren oder umdrehen, die Grenze zwischen Übersetzung und Bearbeitung ist bisweilen fließend (vgl. Neureuter 2004). Doch auch die reinen Übersetzungen Brechts verstehen sich nie als bloßes Echo des Originals, sondern als Antwort oder freie Aneignung.
Zu Brechts Freiheit der Aneignung gehörte auch die Beschränkung auf Partien, die ihn interessierten; so übertrug er nur 9 der 23 Strophen des 3. Teils von Shelleys Gedicht Peter Bell – das ganze Poem hat 7 Teile. Ähnliches gilt für Shelleys berühmte Masque of Anarchy, mit der Brecht 1938 „Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise“ demonstrierte (GBA 22/1: 424–433); die deutsche Version – Brecht nennt sie „wörtliche Übersetzung“ – dient dabei allerdings nur dem Verständnis des an erster Stelle mit abgedruckten englischen Texts, ist also keine „literarische Übersetzung“). Hochinteressant ist die Transformation von Kiplings Gedicht If (1909), das englische Schulbücher einst weit verbreiteten, in die chinesisch stilisierte Prosa des Me-Ti-Buchs – interessant besonders durch das Weglassen von Anfang und Schluss (Ideal eines Mannes in früheren Zeiten, GBA 18:134).
Das Exil blieb die ergiebigste Zeit für Brechts Übersetzungen. Es lieferte Gelegenheiten und Begegnungen mit Dichtern anderer Sprachen, die oft den Kontakt mit Brecht suchten, Hilfe leisteten und nicht selten schon ihrerseits Texte von Brecht übersetzt hatten. In Dänemark (1933–1939) half Ruth Berlau Brecht bei der Übersetzung des Gedichts Biskoppen (1934; Der Bischof, GBA 14: 419) von Otto Gelstedt, der seinerseits Stücke Brechts für die dänische Bühne übersetzte. Margarete Steffin übersetzte die Kindheitserinnerungen des hochgeschätzten dänischen Arbeiterdichters, Gesinnungsgenossen und Freundes Martin Andersen-Nexö; das von Brecht gründlich durchkorrigierte Typoskript ist im Nachlass erhalten und lässt seinen doch erwähnenswerten Anteil an der Schlussredaktion erkennen. Dass er seinen Namen hinter den Steffins auf das Titelblatt der Buchausgabe setzen ließ, diente wohl vor allem der Förderung des Buchs bei Verlag und Lesern – ein Muster, das sich wiederholte (so etwa, als Steffin das Gedicht Frühlingsproklamation des schwedischen Dichters Arnold Ljungdal übersetzte, vgl. Neureuter 2010: 11 f.).
Zu keiner Zeit seines Exils aber scheint Brecht mehr übersetzt zu haben als während der dreizehn Monate, die er in Finnland verbrachte (1940–1941), auf das im März 1939 beantragte amerikanische Visum wartend. Das Hauptverdienst an den Vor-Übersetzungen kam der aus Estland stammenden finnischen Schriftstellerin Hella Wuolijoki zu, die Brecht auch den Stoff für das Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti lieferte. Sie war mit Deutsch aufgewachsen und beherrschte es souverän. Sie hat ihm und Margarete Steffin, besonders während des dreimonatigen Zusammenseins auf ihrem Landgut Marlebäck, offensichtlich in die Feder diktiert. So ihr Lieblingsgedicht Tumma (1904) des finnischen Dichters Eino Leino (Der Dunkle, GBA 15: 26–29), so auch die über 800 Verse ihres Kriegslieds, das sie 1915 aus estnischen Volksliedern komponiert hatte. „Es ist ein großes Gedicht“, notierte sich Brecht und beschrieb recht genau den Parallel-Vers der finnischen und estnischen Volkspoesie und sein „dialektisches Moment“ (Journale, 3. Januar 1941; GBA 26: 451 f.). Er hat den Parallel-Vers später (im Kaukasischen Kreidekreis) wiederverwendet, samt 12 wörtlich aus dem Estnischen Kriegslied entnommenen Versen. Wohl für die deutsche Fassung eines Stücks von Hella Wuolijoki übertrug Brecht ein Finnisches Volkslied (GBA 15: 32 f.), indem er die 22 Strophen des Originals in 10 Vierzeilern zusammenzog und den Spott über die asozialen Verhältnisse in der armen Schusterfamilie eher gegen die bürgerlichen Maßstäbe wendete: eine eigenartige Mischung aus genauer Übersetzung und umwertender Bearbeitung.
Neben der Volksdichtung, die seit der Debatte über den Sozialistischen Realismus für einen kommunistischen Autor von besonderer, politischer Aktualität war, zeigte Brecht auch Interesse an zeitgenössischer finnischer Lyrik – am ungereimt-freirhythmischen, zeitbewusst-biographischen Gedicht, wie er es auch selber schrieb. Die Vor-Übersetzungen stammten dabei von dem Publizisten Erkki Vala, dem nach Hella Wuolijoki wichtigsten Vermittler finnischer Verhältnisse. Von Arvo Turtiainens Gedicht Sotakoira (1939, Der Kriegshund) schrieb Brecht sich eine wörtliche Übersetzung in sein Notizbuch, ehe er es weiter bearbeitete (GBA 15: 39 f.). Behutsam und sensibel übertrug er drei Gedichte von Erkki Valas Schwester Katri Vala, die ihrerseits Brechts Wiegenlieder ins Finnische übersetzt hatte. Die leichte Straffung und stilistische Formung nach seinem „gestischen Prinzip“ spricht nur für Brechts Nähe zu seiner Vorlage (Die Landsflüchtigen, Der Sommer von Sörnäs, Die Weidenpfeife, GBA 15: 31). Nicht zu vergessen ist schließlich der freundliche Zufall, der Brecht die altgriechische Anthologie Der Kranz des Meleagros, übersetzt von August Oehler, in die Hand spielte. Er kannte die Sammlung seit Anfang der 1920er Jahre. Die schöne Gegenständlichkeit der griechischen Epigramme passte nicht nur zur neuen Sinnlichkeit der eigenen Lyrik während der Marlebäcker Zeit, regte nicht nur eigene Epigramme an, sondern Brecht redigierte auch vier der Oehlerschen Übertragungen – zum Besseren hin (GBA 15: 14 f.).
Auch während des Exils in den USA (1941–1947) hat Brecht übersetzt, zumeist dann, wenn er an Stücken arbeitete, für die er Lieder brauchte – so für den Schweyk und den Kaukasischen Kreidekreis, in den zwei von Béla Bartók aufgezeichnete mährische Volkslieder gerieten (GBA 8: 32). Aber auch hier gab es freundliche Zufälle wie die Schallplatte, auf welcher der schwarze Sänger Lead Belly (Huddie Ledbetter) das Lied von der Gray Goose singt: die zähe, für den weißen Herrn ungenießbare Gans wird zur Parabel für das Überleben der einstigen Sklaven (Die haltbare Graugans, GBA 15: 178 f.). Eine weitere Anthologie Arthur Waleys veranlasste neue Übersetzungen chinesischer Dichter (Resignation; Der Hut, dem Dichter geschenkt, GBA 15: 111 f.). Der Journal-Eintrag vom 30. November 1944 verrät freilich, wie sehr sogar die Beschäftigung mit dem verehrten Dichter Po-Chü-yi am Rand des eigenen literarischen Werks steht: „Nichts rechtes zu tun […]. So übersetze ich ein wenig.“ (GBA 27: 212)
Mit Brechts Rückkehr nach Europa, zuerst in die Schweiz und dann (1948) nach Ostberlin, wo er und Helene Weigel ihr neues Ensemble aufbauten, trat die Theaterarbeit ganz in den Vordergrund. Wie ein Großteil der eigenen Produktion stand auch das Übersetzen vor allem im Dienst politischer Orientierung und der Absicht, die Internationalität (und Geschichte) der antifaschistischen Linksfront zu demonstrieren. So entstanden das Gedicht Gedanken bei einem Flug über die große Mauer nach Mao Tse Tung (1949, GBA 11: 265), das Friedenslied nach Pablo Neruda (1951, GBA 15: 254), die Gedichtfassung von Voltaires Gebet aus der Traité sur la Tolérance (um 1952, GBA 15: 262 f.) sowie ein Briefgedicht aus dem Gefängnis (1933) des türkischen Kommunisten Nazim Hikmet, den Brecht auf einem Schriftstellerkongress im Januar 1956 in Berlin traf (Meine Einzige, 1956, GBA 15: 296 f.); so verstehen sich auch die Eingriffe in die Lorca-Übertragungen von Enrique Beck für eine Radio-Sendung (vgl. Pietrzynski 2003: 228–252) oder die Verwandlung von Maxim Gorkis in rhythmischer Prosa verfasstem Revolutionsgedicht Sturmvogel in Verse (Das Lied vom Sturmvogel, 1954, GBA 15: 281–283).
Wie wenig sich Brecht aber von ideologischen Rücksichten fesseln ließ, wenn es um Poesie ging, zeigt die schöne Übertragung von 70 Versen aus Gabriele d’Annunzios Gedicht La pioggia nel pineto (1899; Regen im Pinienhain, um 1952 [?], GBA 15: 263 f. [der dortige Titel Regen im Kiefernhain ist eine Fehlentscheidung der Herausgeber]). Dazu gibt es ein erstaunliches Bekenntnis zu dem von Mussolini geadelten Dichter: „Es ist mir unmöglich, ihn […] verächtlich nennen zu hören. […] Er war ein Scharlatan, aber dieser Scharlatan schrieb Hirtengedichte, die kaum untergehen werden […].“ (Journale, 18. Juli 1942, GBA 27: 115)
Seine letzte Übersetzungsarbeit wählte Brecht mit Bedacht und Vorsatz. Durch Veröffentlichung von Gedichten des polnischen Dichters Adam Ważyk in der DDR-Zeitung Sonntag am 17. Juni 1956 wird Brecht auf diesen Dichter aufmerksam: ein überzeugter Kommunist, doch gleich ihm bitter enttäuscht von den tatsächlichen Verhältnissen im „real existierenden Sozialismus“. Brecht lässt Ważyk um weitere Gedichte bitten und erhält Roh-Übersetzungen ins Deutsche. So entstehen Poem für Erwachsene, An Paul Eluard, Ansichtskarte aus einer sozialistischen Stadt, Der Mord, Die für uns auf Warschaus Mauern starben, Dialektische Ode und Die Chronik (GBA 15: 302–314). Die geplante Veröffentlichung der acht Gedichte in der Zeitschrift Sinn und Form kam nicht mehr zustande.
Als Brecht am 14. August 1956 starb, hatte er selber – mit Ausnahme der Chinesischen Gedichte – so gut wie keine seiner Übertragungen und Bearbeitungen drucken lassen. Auch wenn sie am Rande des Werks stehen – sie verdienten es, gesammelt und aus der Werkausgabe als Textgattung eigener Art und Dignität herausgelöst zu werden.